Brauner Schleim

Der Nationalsozialismus, der Holocaust und all seine grausamen menschenverachtenden Ausmaße haben mich schon mein Leben lang beschäftigt. Ich konnte gerade lesen, war knapp 6 Jahre alt und meine Mutter hatte ein „kindgerechtes“ Buch über das KZ Dachau ausgeliehen, weil ich Fragen stellte. Wie es genau dazu kam, weiß ich nicht mehr. Aber es hat mich gefangen genommen, mich zur Aufklärungskriegerin gemacht, ich war wie besessen, habe jedes Buch, jeden Artikel verschlungen. Habe geweint, um meine kindliche Fassung gerungen und mir wurde schlecht als ich über das Schicksal der Kinder vom Bullenhuser Damm las. Es gab ein erstes Referat in der 5. Klasse, ich wählte Auschwitz als Thema.

Es gab ganz schön Ärger, als ich ein Bild nach dem anderen mit menschlichen Leichenbergen an die Tafel klebte. Ich wollte meine Mitschüler*innen aufrütteln, konnte nicht ertragen, dass sie nichts über Auschwitz wussten, nichts über Vergasung, über Deportation, über Ausgrenzung, Verfolgung und Rassenwahn. Ich fand es unbegreiflich, dass sie keine Ahnung hatten was Auschwitz war, in der Pause aber Witze über Gaskammern gerissen wurden.

Betretene und geschockte Gesichter meiner 11 jährigen Mitschüler*innen. Aber ich dachte mir, wenn sie darüber Witze machen, können sie auch die Wahrheit ertragen.

Sophie Scholl und die weiße Rose waren meine Held*innen, meine Vorbilder. Ich habe mich oft gefragt, wie es gewesen wäre an ihrer Stelle gewesen zu sein. Sich die große Frage stellen zu müssen. Kapitulation vor der Angst? Angst vor Verfolgung, dem Tod, vor Folter. Oder seiner Überzeugung folgen? Die Ungerechtigkeit nicht ertragen zu können, den Stumpfsinnn der Menschen, ihr leeres Wegsehen? In den Widerstand zu gehen, jede*r auf ihre_seine Weise, aber immer im Schatten der Angst und des Risikos?

Ich war mir damals sicher, ich hätte nicht wegsehen können.

Jetzt habe ich selbst eine Tochter. Es gibt eine Menge zu verlieren. Und wenn ich mich jetzt frage?

In Zeiten erneuter Menschenverachtung, die ohne Bedenken offen ausgesprochen wird. In Zeiten in der es eine rechtspopulistische Partei mit einem Parteiprogramm voll dieser menschenverachtenden Forderungen, sorgsam verpackt in die Hülle der Demokratie, dieses Jahr wohl schaffen wird in den Bundestag einzuziehen. In denen einer ihrer führenden Köpfe von „dämlicher Bewältigungskultur“ spricht und das Holocaust Mahnmal in Berlin als „Denkmal der Schande“ bezeichnet.

Es wirkt beinahe, als hätten einige Menschen Jahrzehnte lang die Luft anhalten müssen und prusten nun den ganzen braunen Schleim auf die Straße. Bespucken damit jeden der anders denkt, anders aussieht, anders liebt. Wovor haben sie nur solche Angst, die „besorgten“ Bürger? Das jemand ihnen etwas wegnimmt? An ihrem Familienbild rüttelt? Warum sollte dies zu erschüttern sein, wenn es so golden ist? Wer sollte etwas verlassen in dem er sich geborgen und glücklich fühlt? Das macht keinen Sinn.

Aber auch Witze übers Vergasen machen keinen Sinn. Und sie wurden trotzdem ausgesprochen, um sich groß zu machen, gesehen und gehört zu werden. Traurig, wenn dies der einzige Weg zu sein scheint.

Vielleicht sollte sich jeder diese Frage einmal stellen. Was würdest du tun?

Schweigend wegsehen? Aus Angst vor Folter, vor Mord, aus Angst um deine Familie, davor das sie dich einsperren wenn du den Schwachen eine Stimme gibst?

Wenn ihr den Mut habt euch diese Frage zu stellen, auch wenn es weh tut, auch wenn ihr zu keiner klaren Antwort kommt, gibt es eine gute Nachricht.

Es ist noch nicht zu spät. Noch leben wir in einer freien Demokratie, in einem Land der Meinungs- und Pressefreiheit. In dem es ein Grundgesetz gibt das die Menschenrechte schützt, das errichtet wurde auf der Asche der Zerstörungswut eines menschenverachtenden Regimes.

Es gibt eine mutmachende Nachricht. Ihr müsst diese Entscheidung noch nicht treffen. Noch habt ihr die Chance ohne Gewalt eure Stimme zu erheben. Friedlich und mit Nachdruck. Seid eine Stimme für die Leisen, die unserer Sprache nicht mächtig sind, für die Stummen, die es nicht geschafft haben und vor unseren Toren den Tod fanden. Erhebt eure Stimme für die Lauten und Bunten, die lachen und einander lieben wollen, dieses tiefste Grundbedürfnis nach Liebe und Akzeptanz haben, wie jeder Mensch auf dieser Erde. Warum sollen sie schweigen, nur weil sie bunt sind? Erhebt eure Stimme für euch. Seid es euch wert in einer Welt zu leben, in der jeder gehört werden darf. Die Stummen und die Leisen, die Lauten und die Sanften. Denn ihr könnt jeder Zeit einer von ihnen werden.

Menschenverachtender brauner Schleim schreckt vor niemandem zurück. Er fliegt einfach durch die Luft, verseucht und verklebt alles um ihn herum. Frisst Farben, Düfte und Klänge.

Stellt euch die Frage jetzt. Denn noch ist es nicht zu spät. Noch ist die Antwort leichter zu treffen, noch müsst ihr nicht wählen zwischen Gewissen und Angst.

Was würde ich tun?

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